

Seneca: Über den Wechsel des Aufenthaltsorte
Du glaubst, das sei Dir allein begegnet, und wunderst Dich darüber als über etwas Neues, dass Du durch eine so lange Reise und so vielfachen Wechsel des Ortes dennoch den Trübsinn und die Schwermut Deines Gemüts nicht verscheucht hast. Den Sinn musst Du wechseln, nicht den Himmelsstrich. Magst Du über das weite Meer schiffen, mögen Dir, wie unser Virgilius sagt, Länder und Städte entschwinden: Wohin Du auch immer kommst, Deine Fehler werden Dir folgen. Zu einem, der über ganz dasselbe klagte, sagte Sokrates: „Was wunderst Du Dich, dass Deine Reisen Dir nichts nützen, da Du Dich selbst mit herumschleppst?“ Derselbe Umstand, der Dich forttrieb, verfolgt Dich. Was kann Dir die Neuheit der Länder frommen? Was das Bekanntwerden mit Städten und Gegenden?
Vergeblich ist dieses Umhertreiben. Du fragst, warum Dir diese Flucht nichts hilft? Du fliehst mit Dir selbst. Die Last Deiner Seele muss erst abgelegt werden; eher wird Dir kein Ort gefallen…
Aus Seneca: Vom glückseligen Leben.
Der römische Philosoph, Vertreter der stoischen Ethik, und Senator Lucius Änneus Seneca, geboren kurz vor Christi Geburt in Spanien, war der Lehrer des Kaisers Nero und wurde von ihm im Jahr 65 n.Chr. zum Selbstmord gezwungen.