Kultur und Tourismus

Überlegungen zum Einfluss des Tourismus auf die Kultur des touristischen Gastlandes

Befasst man sich mit den Bedingungen und Chancen der interkultureller Kommunikation zwischen Touristen und Einheimischen in den Zielländern bzw. Gastländern, so kommt man schnell zu der Einsicht, dass einem beiderseitigen Lernprozess erhebliche Barrieren entgegenstehen. Der touristische Kulturkontakt stellt sich als eine Einbahnstraße dar: als Mechanismus, der die Merkmale der westlich-industriellen Kultur (z.B. den euro-amerikanischen Lebensstil) in traditionell orientierte Regionen der Dritten Welt überträgt und dazu beiträgt, die weltweit vielerorts schon dominierende Position der westlich-industriellen Kultur weiter zu festigen.

Überlegungen zum Einfluss des Tourismus auf die Kultur des touristischen Gastlandes

Befasst man sich mit den Bedingungen und Chancen der interkultureller Kommunikation zwischen Touristen und Einheimischen in den Zielländern bzw. Gastländern, so kommt man schnell zu der Einsicht, dass einem beiderseitigen Lernprozess erhebliche Barrieren entgegenstehen. Der touristische Kulturkontakt stellt sich als eine Einbahnstraße dar: als Mechanismus, der die Merkmale der westlich-industriellen Kultur (z.B. den euro-amerikanischen Lebensstil) in traditionell orientierte Regionen der Dritten Welt überträgt und dazu beiträgt, die weltweit vielerorts schon dominierende Position der westlich-industriellen Kultur weiter zu festigen.

Wenn wir den Begriff „Kultur“ hier im Sinne eines totalen so verwenden, wie es die Ethnologie tut, so sei einschränkend vermerkt, dass wir einer Darstellung der verschiedenen Kulturbegriffe nicht vorgreifen wollen, indem wir scheinbar auf eine Differenzierung verzichten. Vielmehr ist die Klärung des anzuwendenden Kulturbegriffes eine entscheidende Voraussetzung für jede sinnvolle Analyse der Auswirkungen des Tourismus. Bevor wir an anderer Stelle auf die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Akkulturation‘ eingehen, mit deren Hilfe wir den Kulturwandel – ob touristisch oder anders bedingt – zu erfassen hoffen, sind aber noch einige Vorbemerkungen über die diesem Kapitel zugrundeliegenden Problemstellungen nötig.

Von der vorwissenschaftlichen Tourismuskritik wird der Vorwurf erhoben, der aus den Industrieländern in die Länder der Dritten Welt fließende Massentourismus würde in Zielgebieten mit noch überwiegend traditionellen Kulturen Wirkungen hervorgerufen, die auf eine Verflachung und einen Abbau dieser Kulturen sowie auf einen Verlust ihrer kulturellen Identität hinauslaufen.

Wir haben im Fall Mexico zu untersucht, ob und wo solche Wirkungen feststellbar sind und wie sie sich – falls überhaupt – quantitativ messen lassen. Dabei werden wir auf das Problem der Kausalität von kulturellen Veränderungen stoßen, denn der Tourismus ist höchstens im regionalen Einzelfall, nie aber auf nationaler Ebene, der einzig wirkende Wandlungslöser.

 

1.                Zur Kulturkritik am modernen Tourismus

Der moderne Massentourismus ist eine Folge des Industrialisierungsprozesses und stellt aus der Sicht der Touristen den Versuch dar, den Zwängen der Industriegesellschaft vorübergehend zu entfliehen. Hans Magnus Enzensberger[1] nennt „…die Flut des Tourismus…eine einzige Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit, mit der unsere Gesellschaft uns umstellt“. Jedoch hat sich „…die Befreiung von der industriellen Welt… selber als Industrie etabliert, die Reise aus der Warenwelt ist ihrerseits zur Ware geworden“.[2]

Die Kritik an der Tourismus-Kritik bemüht sich dagegen, die moralische Berechtigung zum zweckfreien Reisen in den „kostbarsten Wochen des Jahres“ (Werbeslogan) hervorzuheben und die „Denunziation des Massentourismus als kulturell minderwertige Erscheinung“ zurückzuweisen.[3]

Einigkeit besteht allenthalben darüber, dass das Reisen der heutigen Industriegesellschaft primär dem Regenerieren der Arbeitskraft dient und nicht mit den Begriffen des Reisens der Eliten feudaler und bürgerlicher Gesellschaften früherer Epochen gemessen werden kann.[4]

In der Zurückweisung der Kulturkritik des Tourismus und in der Beweisführung von Rechtmäßigkeiten und Notwendigkeit des massenhaften Reisens werden die Argumente dieser Kulturkritik implizit aber eben doch anerkannt: dass nämlich der Tourist nicht in die Dritte Welt reist, um das zu lernen, was die Ethnologen für sich in Anspruch nehmen: „Sich selbst und das ihm selbstverständlich erscheinende Kulturverhalten durch die Erfahrung der fremden Kulturen zu relativieren.“[5] Vielmehr ist „eine touristische Reise … keine kulturanthropologische Expedition, sondern ein kurzfristiger Urlaub von den Zwängen der modernen Leistungsgesellschaft, ein Urlaub, der problemfrei bleiben soll.“[6]

Das industrielle System des Welt-Tourismus (wir haben es auch schon als Interaktions-System dargestellt) transferiert mit den Touristen nicht nur die laut Enzensberger auf der vergeblichen Flucht vor sich selbst und der Gesellschaft befindlichen Mitglieder industrieller Gesellschaften mitten in die Lebenswelt vor-industrieller, nicht-säkularer Gesellschaften; er transferiert auch die industriellen Systembedingungen (besonders Kapital) und Systembegriffe (euro-amerikanische Kulturbegriffe) in die traditionellen Gesellschaften der Dritten Welt, die von Natur aus andere „Mittel und Werkzeuge zur Umweltbewältigung“ haben[7] und mit industriellen Systemen zunächst gar nichts anfangen können. Wenn sie lernen sollen, mit solchen Systemen und deren Anforderungen zu leben, müssen sie zwangsläufig ihre traditionellen Methoden der Umweltbewältigung aufgeben.

Dieses Aufgeben, zu dem sie z.B. das Partizipieren an einer touristischen Regionalentwicklung zwingt, bedeutet aber nicht Finden oder Bewusstwerden der eigenen kulturellen Identität, sondern bedeutet „Dekulturierung und Dequalifizierung“[8] der Person, die ihre traditionelle Lebenswelt verlassen muss, ohne die Chance zur wirklichen Aufnahme in einer neuen Lebenswelt zu haben.

 

2.                Das Problem der kulturellen Auswirkungen in der Dritten Welt

Touristische Regionalentwicklungen stellen in vielen Ländern der Dritten Welt künstliche eingepflanzte, moderne „Inseln“ dar, an die von interessierten Schichten Hoffnungen geknüpft werden, sie mögen als Faktor der Industrialisierung und als Herde eines erwünschten Modernisierungsprozesses wirken. Solche Modernisierungsprozesse können aber nicht gleichmäßig über Land und Gesellschaft verteilt sein, sondern treten in der Dritten Welt erfahrungsgemäß in Form industrialisierter Zentren und Enklaven auf. Die „modernen“ Zentren sind in Lateinamerika, Asien oder Afrika die Millionenstädte mit ihrer weitgehend nach westlich-modernen Mustern lebenden, teils bürgerlichen, teils proletarischen Gesellschaft.

Wohl kann der transnationale Tourismus in diesen Zentren und Enklaven kulturelle Veränderungen herbeiführen, jedoch kaum solche, die in der Verdrängung traditioneller Lebensformen durch den euro-amerikanischen Lebensstil bestehen – dieser ist dort bereits weitestgehend eingeführt. Die kulturellen Veränderungen, die der Tourismus herbeiführen kann, liegen im Verhalten und den Wertvorstellungen der direkt beteiligten Einheimischen: es kann z.B. zu Kommerzialisierung, zu Kitschprodukten, zu Servilität, zu Prostitution, zu Unfreundlichkeit oder krimineller Aggressivität kommen. Es kann im positiven Sinn aber auch – und dies sogar gleichzeitig – zur Pflege und Förderung kultureller Aktivitäten und Institutionen kommen, wie sie zum Bedürfnis der modernen Industriegesellschaft gehören: Theater, Ballett, Konzert, Museen, Kunstaustellungen. In den städtischen Zentren der Dritten Welt können die Millionenslums marginalisierter Massen Tür an Tür einer zum Teil oder gänzlich für den Tourismus produzierten „Hochkultur“ existieren.

Eine völlig andere Situation entsteht, wenn Touristen aus Industriegesellschaften in die Lebenswelt traditionell-autochthoner Gesellschaften eindringen, wie wir sie z.B. bei den verbliebenen Resten der indianischen Bevölkerung in Mittelamerika vorfinden. Hier kann es zu Demonstrationseffekten kommen, deren Folge vielfach Kulturverlust[9] bzw. Dekulturierung[10] und ein „Geisteszustand der Unterentwicklung“[11] sind.

Die touristischen Demonstrationseffekte sind überdies stärker, als es die Effekte des Kontaktes zwischen den unterschiedlichen Kulturen in einer nicht-touristischen Situation wären. Der Tourist legt im Urlaub nämlich Konsumgewohnheiten und Verhaltensweisen an den Tag, die er nur während der Ferienzeit verwirklichen kann und die für ihn unter normalen Alltagsbedingungen auch ungewöhnlich sind.

Ob es zu den touristischen Demonstrationseffekten kommt und in welchem Ausmaß dies geschieht, hängt also von der soziokulturellen Struktur der Gruppe von Einheimischen ab, die mit dem Tourismus direkt in Berührung kommen. Je mehr sich die jeweilige Gruppe bereits dem westlich-modernen Lebensstil angepasst hat, desto geringer ist die Problematik der Demonstrationseffekte.

Wir wollen abschließend nochmals die bereits angeklungene Dialektik unterstreichen, die mit den kulturellen Auswirkungen des Tourismus in der Dritten Welt anscheinend unauflöslich verbunden ist:

Die Zerstörung der Kulturen autochthoner Gruppen kann nicht im Interesse einer Gesellschaft sein, die die Identität ihrer Kultur und ihr erwachendes Selbstbewusstsein in eben diesen Kulturen sucht. Die mexikanische Gesellschaft misst z.B. der Wiederbelebung des indianischen Elements wachsende Bedeutung bei und ist neuerdings bemüht, die ethnischen Eigenarten der Indios zu bewahren. Wenn die Hypothese richtig ist, dass der Tourismus indianische Kultur auf Dauer dort zerstört, wo er sich akkulturierend auf sie auswirken kann, dann müsste die mexikanische Gesellschaft ein Interesse daran haben, die Ausdehnung des Massentourismus auf die Gebiete der indianischen Lebenswelt einzuschränken.

Andererseits übt der Tourismus, besonders soweit er Besichtigungs- und nicht nur Bade- oder Vergnügungstourismus ist, auch Funktionen in Richtung auf eine kulturelle Emanzipation aus.

Die ökonomische Komponente liegt darin, dass mit den eingenommenen Tourismusdevisen verfallene archäologische Stätten freigelegt und erhalten werden können. Auch der Bau von Museen und die Förderung anderer kultureller Aktivitäten erfordern Mittel, die Ländern der Dritten Welt zumeist nicht zur Verfügung stehen. Voraussetzung ist freilich, dass die kulturellen Aktivitäten auf einem authentischen Niveau gehalten werden und nicht zur minderwertigen kommerziellen Imitation abgleiten.

Die psychologische Komponente liegt in der Förderung des kulturellen Selbstbewusstseins. Viele Menschen in der Dritten Welt (auch dies ist eine Hypothese) empfinden es als Ehre, wenn Touristen aus fernen Ländern anreisen, um die baulichen und künstlerischen Leistungen ihrer Vorfahren zu bestaunen.

Doch nun zu der Frage: Wie müssen wir vorgehen, um den kulturverändernden Wirkungen des Tourismus auf die Spur zu kommen?

Joerges und Karsten schlagen vor, die Analyse auf mehreren Ebenen anzusetzen, die in ihrer Gesamtheit einbezogen werden sollen:[12]

  • „Erstens auf der

Ebene der beteiligten Personen, der Touristen also und der Menschen, mit denen sie auf ihren Reisen in Berührung kommen, mit der Frage nach den Veränderungen in Einstellungen und Werthaltungen, die der Kontakt auslöst, und nach den Konsequenzen solcher Veränderungen für Verhalten und Lebensstil auf beiden Seiten.

  • Zweitens auf der

Ebene des wirtschaftlichen Systems

  • Drittens (auf der Ebene) der Auswirkungen auf die Qualität und Nutzungsstruktur der Umwelt.“
  • Die Wirkungen des Tourismus auf das politische System und das System internationaler politischer Beziehungen wären viertens zu erfassen.

In unserer Arbeit „Tourismus und Mexiko. Eine Untersuchung über die Auswirkungen interkultureller Kontakte in der Dritten Welt“ setzen wir einen deutlichen Schwerpunkt auf die Thematik der erstgenannten Ebene, auf die am Tourismus beteiligten Personen also. Wir wollen aber auch deutlich machen, dass Personen, Wirtschaft, Umwelt und politisches System keine voneinander unabhängigen Ebenen sind, die jeweils isoliert zum Gegenstand einer Betrachtung von Tourismus-Auswirkungen gemacht werden können. Wir wollen vielmehr deutlich machen, dass der Tourismus ein gesellschaftliches Gesamtphänomen ist (‚phénoméne social total‘ im Sinne der Gurvichschen Soziologie)[13] und dass die Gefahr der fehlerhaften Analyse seiner Auswirkungen in erster Linie in der isolierten Betrachtung einzelner Aspekte liegt.

Gleichzeitig wollen wir im Sinne der Kultursoziologie hervorheben, dass Land und Leute eines Zielgebietes Teile eines komplexen Kultursystems sind, dessen Eigenarten vor dem Hintergrund seiner Geschichte, seiner Religion, seiner ethnischen Struktur – eben vor dem Hintergrund seiner Kulturtatsachen gesehen werden müssen. Nur so ist es möglich, über die Feststellung von kulturellen Veränderungen hinaus auch zu ihrer Erklärung zu kommen.

In einem anderen Beitrag soll auf die Begriffe ‚Kultur‘ und ‚Akkulturation‘ näher eingegangen werden. Dann wäre zu überlegen, in welcher Form und mit welchem kulturellen Stil der transnationale Tourismus auf die Zielgebiete der Dritten Welt zukommt. Weiterhin wollen wir in einem anderen Beitrag den Versuch machen, das Kultursystem eines Ziellandes der Dritten Welt mittels exemplarischer Darstellung von Kultur-Variablen zu beschreiben, die uns Zugang zur empirischen Analyse von kulturellen Tourismusauswirkungen verschaffen könnten.

Prof. Dr. Peter Voigt

 

[1] Enzensberger, H. M.: Eine Theorie des Tourismus, in: Einzelheiten I, Frankfurt 1962, S. 167

[2] Enzensberger, H. M.: ebenda, S. 161

[3] Joerges, B. und Karsten, D.: Editorial: Tourismus und Kulturwandel, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 3/1978,  S. 4

[4] Einen guten Überblick über die Argumente und Positionen dieser Diskussion gibt Wagner, F. A.: Die Urlaubswelt von morgen, Erfahrungen und Prognosen, Düsseldorf 1970

[5] Greverus, I.-M.: Tourismus und interkulturelle Kommunikation, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 3/1978, S. 104

[6] Nettekoven, L.: Soziale und kulturelle Wirkungen des Ferntourismus, in: ‚Ferntourismus‘, a.a.O., S. 121

[7] Greverus, I.-M.: ebenda, S. 98

[8] Das Phänomen der ‚Dekulturierung und Dequalifizierung‘ erklärt Steger in zahlreichen Beiträgen zur Geschichte und aktuellen Problematik der lateinamerikanischen Gesellschaft.

      Vgl. u.a. Steger, H.-A.: ‚Emanzipation‘ und ‚Akkulturation‘ als Instrument zur Beherrschung der lateinamerikanischen und karibischen Region; in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 1/1974, S. 25 f. Weiterhin Steger, H.-A.: Transnationale Herrschaft und regionale Entqualifizierung des Intellekts.

      Unveröffentlichtes Manuskript, Nürnberg 1978

[9] Greverus, I.-M.: a.a.O., S. 98

[10] Steger, H.-A.: ‚Emanzipation‘ und ‚Akkulturation‘, a.a.O.

[11] Illich, Ivan: zit. N. Greverus, ebenda, S. 98

[12] Joerges, B./Karsten, D.: a.a.O., S. 5

[13] Steger, H.-A.: ‚Emanzipation‘ und ‚Akkulturation‘ …, a.a.O., S. 28